Nelly Dirks

oder

Edda-Mythen von einer Frau erzählt

Von Nelly Dirks

Eines Tages, vor vielen, vielen, vielen tausend Jahren, wanderte die junge Freyja, Herrin über Wälder, Täler und Berge, durch den Wald am südlichen Ostmeer. Eine ihrer Katzen war von der nächtlichen Jagd nicht zurückgekehrt und sie befürchtete, ihr wäre etwas Schlimmes zugestoßen.

Auf ihrem Weg begegnete sie vielen Tieren: Hirschen, Igeln, Hasen, Bären, Füchsen und Wölfen. Doch keiner der Vierbeiner hatte Bernbette gesehen.

Sie fragte die Raben, Falken und Adler, die Meisen, Finken und Spatzen. Doch auch die Gefiederten hatten das Fellknäuel nicht gesehen.

Also wanderte sie weiter. Sie kam an den Meeresstrand, zog ihre Schuhe aus und ging barfuß über den wellennassen Sand. Da sah sie von der Abendsonne angestrahlt einen leuchtenden, goldfarbenen Stein im Meeresschaum liegen. Sie hob ihn auf und hielt ihn gegen die letzten Sonnenstrahlen. Ein so leuchtendes Gold kannte sie nur vom Fell ihrer geliebten kleinen Katze. Sie nahm den Stein als Zeichen, dass das kleine Tier irgendwo in der Nähe sein musste. Freyja schloss die Augen, konzentrierte sich auf dieses goldene Leuchten, das warme Gefühl des Steins in ihrer Hand, das Abbild ihrer kleinen Katze und ließ eine Vision des Weges auftauchen.

Und da war er auch schon: zurück in den Wald und den Berg hinauf. Sie hätte lange wandern müssen. Doch da sie Gefahr für das kleine Tier befürchtete, wollte sie schneller vorankommen. Als Falke breitete sie ihre Schwingen aus und erhob sich hoch über die Bäume und hinauf auf die Spitze des Berges.

Dort angekommen spähte sie nach dem Eingang der Höhle aus ihrer Vision. Sie musste nicht lange suchen. Sie hörte Hammerschläge aus dem Inneren des Berges und folgte diesem Geräusch. Als sie an der Höhlenöffnung angekommen war, konnte sie einen roten Schimmer in der Dunkelheit der Felsöffnung sehen. Sie lief darauf zu und betrat eine große Halle mit einem mächtigen Schmiedefeuer. Um das Feuer herum werkelten vier Wesen. Sie versuchte sich durch den Lärm der Hammerschläge Gehör zu verschaffen. Freyja schrie den Namen ihrer Katze Bernbette in die Höhle hinein. Er hallte durch alle Gänge und Räume und kam als vielfaches Echo zurück – ein Lied, dass tatsächlich den kleinen Fratz anlockte. Die Katze hatte sich in einer Nische versteckt und beobachtete das Tun der vier Wesen. Aber Freyjas Stimme, die ihren Namen rief, ließ sie ihr Versteck verlassen und so sprang sie in Freyjas Arme und schnurrte so laut, daß selbst die Schmiede ihre Arbeit einstellten und die beiden Besucher neugierig betrachteten.

„Wer seid ihr? Und was tut ihr hier?“ fragte die Herrin die Arbeiter.

„Wir sind Wissensreicher, Obhüter, Feuerer und Brauser1 und erschaffen wallendes Vergnügen2.“ antworteten die vier Wesen und hielten der Herrin die Teile ihrer Werkstücke entgegen.

Was Freyja da in den Händen der Arbeiter sah, ließ ihr Herz höher schlagen. Es waren prachtvolle, goldleuchtende Teile eines Halsschmuckes von noch nie gesehener Anmut. Dieses Geschmeide musste ihr gehören. Auf die Frage, für wen die Männer arbeiten, gaben sie eine rätselhafte Antwort: wir arbeiten für uns und für die, die uns will.

Für die, die uns will? Heißt das, wenn sie sie wollte, könnte sie das Geschmeide bekommen? Doch wollte sie diese vier Wesen? Was wollte sie von ihnen? Sie konnte sie noch nicht einmal erkennen unter der schmutzigen, rußigen Schicht. Also bot sie ihnen Gold und Silber an. Doch das schlugen die Vier aus. Nein, sie würden nicht verhandeln. Entweder sie will den Schmuck, dann auch die vier Männer oder sie geht ohne alles.

Wie sie sich das vorstellen würden, fragte die Herrin.

„Du verbringst einen Tag und eine Nacht mit jedem von uns. Das ist der Handel. Dann bekommst Du den fertigen Halsschmuck.“

Es waren heftige Gedanken, die Freyja mal in diese mal in die andere Richtung wenden ließen. Endlich sagte sie: „Eure Arbeiten sind zu schön als dass ich sie ablehnen könnte. Ihr müsst mir aber noch einen Gefallen tun. Diesen Stein fand ich am Strand und er führte mich hierher. Er hat die Farbe von Bernbettes Fell – daher nenne ich ihn Bernstein. Er soll Teil Eures Werkstücks sein und mich immer an Bernbette und diesen Tag erinnern.“

Obhüter nahm den Stein entgegen und alle vier willigten ein.

„Also gut, wer ist der Erste?“

Wissensreicher legte seine Arbeit beiseite und ging auf die Herrin zu.

„Ich will der Erste sein. Ich werde bei Tag dein Licht erhellen und bei Nacht deine Dunkelheit vertiefen. Wenn die Nacht vorbei ist, wirst du alles wissen, was ich weiß.“

Die beiden zogen sich in eine andere Halle zurück und verbrachten einen Tag und eine Nacht zusammen. Sie erlangte Wissen und Einsichten über Dinge, die sie nicht kannte. Sie erfuhr von der Abstammung ihrer Vorfahren und dem Weg ihrer Nachfahren. Je mehr sie erfuhr umso mehr Fragen taten sich auf. Neues Wissen ließ neue Welten entstehen. Der Tag war kurz, die Nacht erschien noch kürzer.

Am folgenden Morgen war Obhüter an der Reihe. Sie gingen in einen anderen Raum und Obhüter lehrte die Herrin die verschiedenen Arten der geistigen Versenkung und Beeinflussung. Sie lernte Aufregung zu vermeiden und Sanftmut zu üben. Sie lernte Kontrolle über sich und alles in ihrer Nähe zu erlangen. Obhüter zeigte ihr Wege des Schutzes und der Tarnung.

Der dritte Tag war für Feuerer die Gelegenheit die Herrin mit den Flammen der Zerstörung und den Flammen der Veränderung, den Flammen der Glut und den Flammen der Verschmelzung vertraut zu machen. Er erschuf Eisen aus Gestein, verschmolz zwei Teile zu einem, ließ Stahl butterweich werden. Nachts erfuhr die Herrin die Anziehung der Flammen – Wärme und Farben berauschten ihre Sinne und ließen Visionen von der Zukunft aufsteigen.

Als Feuerer gegangen war, erschien Brauser um seinen Tag und seine Nacht mit Freyja zu verbringen. Sie stiegen zusammen auf die Spitze des Berges und Brauser ließ Stürme und Wirbelwinde an Freyjas Kleidern zerren. Sie ließen sich auf einer Windbö bis zum Meer tragen und spürten die salzige Gischt auf ihren Gesichtern. Meeresstürme beschwor Brauser herauf nur um sie plötzlich wieder in sanften Briesen abflauen zu lassen. Das schrille Getöse der Orkane und das Rauschen der Wellen erhob sich zu einem Konzert der Zerstörung um dann wieder in ruhigen wispernden Winden die Gräser am Ufer zu wiegen. Nachts saßen beide unter den Bäumen am Bergfuß und lauschten den Blättern, die Brauser sanft im Wind rascheln ließ. Sie lauschten den Geschichten von fernen Orten und fremden Welten.

Am nächsten Morgen waren Freyja und Bernbette allein. Die Schmiede war kalt, die vier Wesen fort. Auf dem Werktisch neben der Schmiede lag auf einem roten Tuch das fertige Geschmeide. Der Bernstein prangte in der Mitte dieser außergewöhnlich prachtvollen Arbeit. Die vier Bestandteile des Halsreifs, über und über mit zarten Windungen und filigranen Auflagen, strahlten in sonnengleichem Gold. Und jedes Teil erzählte die Geschichte seines Erschaffers. Sogar der Bernstein war mit einem kleinen Katzenkopf verziert.

Freyja legte den Halsreif an und spürte die innewohnende Wärme und Kraft. Sie konnte die Magie der vier Wesen fühlen, die sie von nun an begleiten und ihre eigene Magie verstärken würde. Sie nahm Bernbette auf den Arm und machte sich auf den Weg nach Hause zu den anderen Bewohnern ihrer Halle. Schließlich sollten sich die anderen Katzen und vor allem Bernbettes Schwester Swartsitja keine Sorgen mehr machen.

Ende

1 Die Namen der Zwerge Alfrigg, Dvalin, Berling und Grerr in einer gedeuteten freien Übersetzung

2 Brisingamen frei übersetzt – bri = wallen, gaman = Vergnügen